Wenn der Beifahrer zum Täter wird
Gertruds Kinder wollten unbedingt mal einen Tesla fahren und den «Ludicrous»-Modus miterleben. Da der Familienrat sich ohnehin für ein E-Auto entschieden hatte, begann die Qual der Wahl, mit welchem Auto das Auswahlverfahren gestartet werden sollte. Die scheinbar harmlose Probefahrt nahm eine geradezu dramatische Dimension an.
Die Ereignisse nehmen ihren Lauf, als der Verkaufsberater eine Probefahrt mit Gertrud und ihren Kindern durchführt. Auf dem Rücksitz filmen die Kinder die Fahrt mit ihren Handys, was sich als fataler Fehler entpuppen sollte. Gertrud überschreitet während der Fahrt mehrfach die erlaubte Höchstgeschwindigkeit.
Bei der ersten Geschwindigkeitsüberschreitung fährt Gertrud statt 50 stramme 98 km/h. Beim zweiten Beschleunigungsmanöver erreicht sie Tempo 119, was eine Überschreitung der zulässigen Geschwindigkeit von 69 km/h bedeutet. Noch drastischer wird es beim dritten Manöver, bei dem der Verkaufsberater den «Ludicrous»-Modus aktiviert. Hier überschreitet Gertrud die innerorts üblichen 50 km/h um 83 km/h. Konkret würden die letzten beiden Überschreitungen eine Raserfahrt mit Gefängnisstrafe sowie Ausweisentzug von zwei Jahren bedeuten.
Überraschende Konsequenzen
Da die Kinder die Taten filmten und der Verkaufsberater damit einverstanden war, war der Beweis bereits erbracht. Die Verteidiger argumentierten zwar, dass diese Beweise nicht verwertet werden dürften, aber das Bundesgericht war anderer Meinung, da es sich um eine berufliche Probefahrt handelte, die sozusagen öffentlich geschah.
Die Konsequenzen der Probefahrt sind so gravierend wie überraschend: Der Verkaufsberater, der «lediglich» auf dem Beifahrersitz sass, wurde strenger bestraft als Gertrud, die das «Strompedal» durchdrückte. Der Grund für die strengere Bestrafung des Beifahrers ist darin begründet, dass der Verkaufsberater die Probefahrt leitete und Gertrud aktiv zur Tempoüberschreitung motivierte. Da er allein es war, der den «Ludicrous»-Modus aktivierte, fing er sich gleich ein weiteres Eigentor ein. Er ermutigte in erheblichem Masse zu den riskanten Fahrmanövern. Er drängte sie mehrfach verbal, das Fahrzeug massiv zu beschleunigen. Dadurch war er massgeblich daran beteiligt, wo und wann die gefährlichen Fahrmanöver durchgeführt wurden. Zudem war er sich über die Geschwindigkeit im Klaren: Als Verkaufsberater war ihm die Beschleunigungskraft des Autos bestens bekannt. Er musste sich daher der massiven Tempoüberschreitungen bewusst gewesen sein. Gemäss Bundesgericht wären ohne seine Anweisungen und die Aktivierung des «Ludicrous»-Modus die extremen Tempoüberschreitungen und damit die Gefahr für die Verkehrssicherheit in dieser Form nicht entstanden. Der Verkaufsberater erhielt eine bedingte Freiheitsstrafe von 15 Monaten, weil er den Rasertatbestand erfüllte. Er musste den Führerausweis für 24 Monate abgeben.
Vermeidbarer Sachverhaltsirrtum
Und Gertrud? Sie kam glimpflich davon. Obwohl sie viel zu schnell fuhr und gemäss Gesetz sogar raste, wurde sie nicht als Raserin verurteilt. Rechtlich spricht man vom vermeidbaren Sachverhaltsirrtum. Sie wurde deutlich milder bestraft als der Verkaufsberater, obwohl sie ebenfalls an den Geschwindigkeitsüberschreitungen beteiligt war. Sie war sich aber über die genaue Geschwindigkeit, die das Fahrzeug erreichte, nicht bewusst. Trotz der Tempoüberschreitung und der daraus resultierenden Gefährdung des Strassenverkehrs glaubte Gertrud nicht, dass sie das Tempo in diesem Ausmass überschritten hatte.
Gertrud wurde vom Kantonsgericht wegen fahrlässiger grober Verkehrsregelverletzung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen verurteilt. Aus dem Urteil geht zwar nicht hervor, was das für ihren Führerausweis zur Folge hatte, aber sie dürfte ihn für deutlich mehr als drei Monate abgegeben haben – immerhin nicht für 24 Monate wie der Verkaufsberater. Robin Road wünscht allseits gute Fahrt!
Robin Road hilft
Dr. Rainer Riek – alias Robin Road – schreibt in jeder ai-Ausgabe und auf unserer Website über strassenverkehrsrechtliche Themen sowie rund ums Auto im Recht. Er ist Rechtsanwalt und Notar bei www.zp-law.ch und unter anderem spezialisiert auf Strassenverkehrsrecht. Zudem postet er seine Autoquartette auf dem Autoblog von www.driving.legal. Wichtiger Hinweis: Es handelt sich hier meist um reale Fälle mit geänderten Namen. Jeder Fall ist verschieden und muss einzeln betrachtet werden. Daher erfolgen sämtliche Empfehlungen und Angaben ohne Gewähr.
Haben Sie Fragen oder Anregungen für Robin Road?
Schreiben Sie ihm:
[email protected]
oder per Post:
Robin Road
c/o auto-illustrierte Steinackerstrasse 35
8902 Urdorf