Euro NCAP 2024 – Sicher bis unsicher
Obwohl wir uns immer noch über die Pflicht für akustische Warnungen bei Verkehrszeichen-Verwechslungen ärgern, verstehen wir das Ziel: Assistenzsysteme sollen das Autofahren sicherer machen. Doch wie gut sind sie wirklich? Euro NCAP hat aktuelle Modelle unter die Lupe genommen. Die Ergebnisse überraschen, aber nicht immer positiv.
In unseren modernen Autos übernehmen Assistenzsysteme eine immer grössere Rolle. Da gibt es zum einen die komfortbasierten Funktionen wie intelligente Sprachsteuerung («Hey Dacia, mir ist kalt.» «Hey Fahrer, mir auch!») und zum anderen die sicherheitsrelevanten Assistenten, wie beispielsweise Spurhalteassistenten, automatische Bremssysteme oder Kollisionswarner. Euro NCAP testet seit 2020 auch die unterschiedlichen Fahrassistenzsysteme in modernen Autos. Die Test-Institution unterscheidet zwischen Assistenzkompetenz, also wie gut das System den Fahrer unterstützt sowie die Sicherheitsbackups, die in kritischen Situationen konkrete Massnahmen durchführen, um Unfälle zu vermeiden.
Die Qualität dieser Systeme weist Unterschiede auf
Im aktualisierten Bewertungsschema 2024 wurden die Anforderungen an die Fahrerüberwachung erweitert und zusätzliche Massnahmen eingeführt, um die Geschwindigkeitsassistenz auf Fahrspuren, Strassenmerkmale und lokalen Gefahren (z.B. Baustellen, wetterbedingte Gefahren) zu verbessern. Ausserdem wurden die Sicherheitsbackup-Szenarien auf die Kollisionsvermeidung von Fussgänger und Radfahrer um Motorradfahrer ausgeweitet.
Die Klassenstreber
Unter diesen Bedingungen überzeugten zwei Fahrzeuge besonders durch ihre hohe Assistenzkompetenz und sehr gute Sicherheitsvorkehrungen. Der BMW i5 und die Mercedes-Benz C-Klasse erhielten die Bewertung „sehr gut“. Beide Systeme zeigten eine zuverlässige Kontrolle von Geschwindigkeit und Spurführung, assistierten dem Fahrer bei einem Grossteil der Fahraufgaben und ermöglichten es dem Fahrer unmittelbare Kontrolle zurückzuerlangen, sollte dieser die Situation unterschiedlich beurteilen. Besonders bei der Sicherheitsunterstützung schnitt der Mercedes hervorragend ab: Bei Nicht-Reaktion des Fahrers steuert das Fahrzeug kontrolliert auf den Seitenstreifen und bringt sich sicher zum Stillstand.
Der Volkswagen ID.7 und der Volvo EC40 (früher C40 Recharge) wurden mit „Gut“ bewertet. Beide Systeme funktionierten gut. Doch im Vergleich zu BMW und Mercedes fehlten die Robustheit sowie Fehleranfälligkeit der Systeme.
Die Sitzenbleiber
Am Ende der Liste steht der BYD Atto 3, den Euro NCAP als „Nicht empfohlen“ bewertete. Das intelligente adaptive Tempomat-System interpretierte Verkehrsschilder mehrheitlich inkorrekt und erhielt im Kapitel Assistenzkompetenz nur schwache Bewertungen. Besonders schlecht schnitt der BYD jedoch im Bereich Sicherheitsbackup ab. Das System konnte stationäre Fahrzeuge nicht entsprechend erkennen, und im Fall eines inaktiven Fahrers griff es nicht ausreichend ein. Gar nicht lustig: In solchen Fällen schaltet das System nach einer Weile zwar die Lenkunterstützung ab, der Geschwindigkeitsassistent behält die eingestellte Geschwindigkeit bei. Man möchte sich nicht ausmalen, was für verheerende Folgen das haben kann.
Mögliche Gründe
Die Euro NCAP-Test beweisen, dass sich die hohen Investitionen der Premiumhersteller in diesem Bereich auszahlen. Generell lässt sich feststellen, dass europäische Marken eine grosse Sensibilität für das Thema Assistenzsysteme entwickelt haben. Im Vergleich dazu hinken chinesische Modelle noch deutlich hinterher – eine Entwicklung, die sich unter anderem auf die unterschiedlichen gesetzlichen Vorgaben zurückführen lässt. Während in Europa redundante Sensorsysteme erforderlich sind, um eine Strassenzulassung für Assistenzsysteme zu erhalten, gelten in China weniger strenge Sicherheitsstandards. Die chinesische Regierung stellt ihren Herstellern auf diesem Gebiet geringere Anforderungen, sodass letztlich die Autokäufer dort in gewisser Weise die Entwicklungsarbeit der Hersteller mittragen.
Kernaussage
Eine wichtige Aussage von Euro NCAP möchten wir nochmals betonen: Alle getesteten Systeme bieten derzeit nur unterstützende Funktionen! Natürlich gibt es immer fortschrittlichere Technologien, die es dem Fahrer ermöglichen, sich kurzzeitig oder bei niedrigen Geschwindigkeiten vollständig von der Fahraufgabe zu lösen. Doch keines der Systeme entbindet den Fahrer von seiner Verantwortung am Steuer.
Text: Jürg Zentner
Bilder: Diverse Hersteller / Euro NCAP